Frühwarnung neu denken – was Deutschland aus den Erfahrungen der langjährigen Zusammenarbeit mit Indonesien bei Aufbau und Betrieb des Tsunamifrühwarnsystems lernen kann

Harald Spahn (Consultant), Nico Hybbeneth (THW), Dr. Jörn Lauterjung (GFZ)

Die Ereignisse im Ahrtal im Juli 2021 mit 134 Toten haben die Probleme des hiesigen Warnsystems für alle sichtbar gemacht – viele Anwohner:innen wurden von der Sturzflut überrascht und hatten keine Zeit sich in Sicherheit zu bringen. Daraufhin folgte natürlich die Frage, warum nicht ausreichend oder zu spät gewarnt wurde. Die Beantwortung dieser Frage ist alles andere als trivial, und es greift sicherlich zu kurz zu glauben, dass mit der Einführung der Cell-Broadcast Technologie das Problem nun weitgehend gelöst ist.

In den Handlungsempfehlungen zur Frühwarnung, die ein Jahr nach der Flutkatastrophe vom DKKV als erste Lehren für die Zukunft veröffentlicht wurden, wird hervorgehoben, dass es erforderlich ist, „die Gefahrenlage greifbar und für unterschiedliche Menschen unmittelbar ansprechend sowie verknüpft mit Handlungsanweisungen zu veranschaulichen“. So weit, so gut. Nur, wie schafft man das im Fall von Sturzfluten, wenn die Vorwarnzeit kurz und die Lageeinschätzung unsicher ist? Hier können wir von den Erfahrungen aus Indonesien lernen.

Zur Erinnerung: Deutschland unterstützte Indonesien seit 2005 beim Aufbau und in der Betriebsphase des indonesischen Tsunami Frühwarnsystems (InaTEWS) durch die Projekte GITEWS und PROTECTS. Seit März 2021 forscht das Projekt TsunamiRisk (BMBF) an neuen Strategien zur Detektion und Frühwarnung von Tsunamis, die durch Hangrutschungen oder vulkanische Aktivitäten verursacht werden. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Organisation und Implementierung einer funktionierenden Warnkette, die es ermöglicht die Bevölkerung in kürzester Zeit verlässlich zu warnen.

Der Verlauf und die unmittelbaren Auswirkungen des sturzflutartigen Hochwassers im Ahrtal sowie die Beobachtungen zum Warnprozess zeigen auffallende Ähnlichkeiten mit Erfahrungen aus Indonesien. Tatsächlich erinnerte die Flutwelle, die sich bei der Sturzflut flussabwärts durch das Ahrtal bewegte, in ihrer Ausprägung stellenweise durchaus an einen Tsunami. Es wurde deutlich, dass die Anforderungen, die sich an den Warnprozess stellten, sehr ähnlich sind. Dazu gehören die kurzen Vorwarnzeiten, die in Indonesien in der Regel bei 30 bis 40 Minuten liegen und im Ahrtal nur wenige Stunden betrugen sowie eine mit großen Unsicherheiten behaftete Datenlage, auf deren Grundlage dennoch schnelle Entscheidungen über Warnungen und Evakuierungen getroffen werden müssen. Eine der wichtigsten Lehren aus Indonesien ist, dass solche schnell auftretenden Naturgefahren besondere Verfahren für den Warnprozess erfordern, die sich klar von denen für Hochwasser in den großen Flusssystemen (Rhein, Oder, Elbe) unterscheiden, die durch deutlich längere Vorwarnzeiten und ein verlässlicheres Lagebild gekennzeichnet sind.

Was beide Länder gemeinsam haben

Interessanterweise haben beide Länder ihre Warnketten ähnlich organisiert und weisen der kommunalen Ebene – mit der Verantwortung für die Organisation und Durchführung der Warnprozesse auf lokaler Ebene – eine zentrale Rolle zu. Dazu zählen die Erstellung lokaler Warnkonzepte, die Bereitstellung von Warnmitteln, die Information der Bevölkerung und der Medien sowie die Redaktion und Verbreitung von Katastrophenwarnungen. Insbesondere fallen hier die grundsätzlichen Entscheidungen über Evakuierungsmaßnahmen.

Nicht nur die Rollen der kommunalen Ebene im Warnprozess in beiden Ländern sind sich ähnlich, sondern auch die Herausforderungen, mit denen sie dabei konfrontiert werden. Diese liegen sicherlich auch darin begründet, dass extreme Ereignisse lokal relativ selten sind, die Auswirkungen bislang gemachte Erfahrungen und gelegentlich auch das Vorstellungsvermögen weit übertreffen und mit denen die Verantwortlichen in der Regel noch nie konfrontiert waren. Hinzu kommt, dass auf lokaler Ebene meist nur sehr begrenzte institutionelle Ressourcen und Kapazitäten vorhanden sind. Dies betrifft die Möglichkeiten rund um die Uhr (24/7) einsatzbereit zu sein, ausreichend und gut trainiertes Personal bereit zu stellen sowie Monitoring Informationen und Warnungen von Fachinstitutionen richtig interpretieren zu können, um eine schnelle und realistische Lageeinschätzung und entsprechendes Handeln zu gewährleisten. Eine besondere Herausforderung stellt dabei der Entscheidungsprozess über Evakuierungen dar, auch weil jede Evakuierungsanordnung mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden ist. Die Tatsache, dass es vor Ort in der Regel keine besonderen Trainings für Entscheidungsträger, Standardverfahren und praktische Übungen für die Bewältigung solcher Situationen gibt, wirkt sich erschwerend aus.

Wie geht Indonesien mit den Herausforderungen um?

Der Warnprozess und die institutionellen Voraussetzungen in Indonesien unterscheiden sich in einigen Punkten deutlich von denen in Deutschland. Zum einen werden den Kommunen im Falle einer Tsunami-Gefahr über ein nationales Warnzentrum alle relevanten Daten und Monitoring-Informationen aus einer Hand zur Verfügung gestellt und mit Warnstufen versehen, die mit klaren Handlungsempfehlungen verbunden sind. Zudem hat man sich im Rahmen der Dezentralisierung entschlossen, lokale und rund um die Uhr besetzte Katastrophenrisikomanagementbehörden auf Bezirksebene zu etablieren, die bei der operativen Umsetzung des Warnprozesses eine wichtige Rolle spielen. Die Einrichtung direkter und redundanter Kommunikationswege zwischen dem nationalen Warnzentrum und den Kommunen sowie die gezielte Einbindung von Rundfunkmedien und sozialen Medien zur direkten Information der Bevölkerung haben sich als wichtige Komponenten des Warnsystems erwiesen.

Bei der Umsetzung von Warnungen in Handlungsanweisungen hat man sich in Indonesien auf die Etablierung von Warnstufen geeinigt, die den lokal Verantwortlichen, aber auch der Bevölkerung klare Handlungsempfehlungen mitliefern. Die Warnverfahren vor Ort werden durch Standard Operation Procedures (SOPs) strukturiert und eingeübt, um eine schnelle Entscheidungsfindung und eine zeitnahe Warnung und Information der lokalen Bevölkerung zu unterstützen. Darüber hinaus werden Evakuierungspläne im Voraus erstellt und sind der Bevölkerung bekannt. Auch die regelmäßigen Simulationsübungen, sowohl auf Behördenebene als auch unter Einbeziehung der Bevölkerung, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Stärkung der Fähigkeiten von lokalen Akteuren.

Die Warnprozesse und lokale Ebene umfassend in den Blick nehmen

Bei den Überlegungen zur Verbesserung der Frühwarnung in Deutschland erscheint es notwendig, Warnprozesse stärker und umfassend in den Blick zu nehmen. Dabei muss, wie auch in Indonesien, der Rolle und den Herausforderungen der lokalen Ebene mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden und diese für die Umsetzung in ihrer Rolle gestärkt werden. Wie zuvor beschrieben, wurden in Indonesien in den letzten Jahren umfangreiche praktische Erfahrungen mit Warnprozessen für schnell eintretende Naturgefahren gesammelt und Ansätze entwickelt, die möglicherweise auch für Deutschland eine vielversprechende Option darstellen könnten.

Für die Zukunft ist es nun wichtig Frühwarnung stärker als sozialen Prozess zu verstehen und vom Ende her zu denken. Ausgangspunkt für die Organisation eines effektiven Warnprozesses ist das Verständnis der Handlungsoptionen der betroffenen Menschen, um sich in Sicherheit zu bringen, und die Bereitstellung der dafür notwendigen Informationen. Die Entwicklung einer gut funktionierenden Warnkette erfordert dabei die Zusammenarbeit aller Akteure. Die Förderung des Austauschs zwischen diesen ist daher ein wichtiger Schritt, um Frühwarnung wirklich neu zu denken.

Anmerkung:
Das hier vorgestellte Thema wurde auf dem BBK-Fachkongress „Forschung für den Bevölkerungsschutz“ am 12.01.2023 in Bonn im Themenblock „Internationale Perspektiven“ unter dem Titel „TsunamiRisk – Institutionelle Aspekte des operationellen Katastrophenrisiko-managements in Indonesien und Deutschland“ präsentiert und nimmt u.a. Bezug auf die Publikation der DKKV-Schriftenreihe 62 „Die Flutkatastrophe im Juli 2021 in Deutschland – Ein Jahr danach: Aufarbeitung und erste Lehren für die Zukunft“ erschienen im August 2022.

Bildquelle: Hochwasserschäden im Ahrtal, Quelle: THW / Max Mölkner